HIER TOBT DAS LEBEN EIN BESUCH AUF DER PALLIATIVSTATION

HIER TOBT DAS LEBEN EIN BESUCH AUF DER PALLIATIVSTATION

HIER TOBT DAS LEBEN EIN BESUCH AUF DER PALLIATIVSTATION

# Themenschwerpunkt

HIER TOBT DAS LEBEN EIN BESUCH AUF DER PALLIATIVSTATION

„Das wird traurig“ habe ich gedacht, als ich mich auf den

Weg ins Euregioklinikum gemacht habe. „Bei der Palliativstation

geht’s ums Sterben“ - so dachte ich jedenfalls.

Falsch gedacht. Total falsch sogar. Ich habe ganz schön viel

gelernt an dem Tag. Was genau, davon schreibe ich in diesem

Artikel. Dankeschön sage ich an dieser Stelle vor allem

an Stationsleitung Silvia Lammering, die sich Zeit genommen

hat, meine Fragen zu beantworten und meinen Mann

und Klinikseelsorger Holger Schmidt, der mir Einblick in

seine Arbeit gewährt hat.

Als ich die Station betrete, fällt mir zuallererst die Tapete

auf. Große, farbenfrohe Blumen zieren die Wand. Es

sieht mehr nach Wohnzimmer aus als nach einer Klinik.

Auch die Sitzecken und die Küche laden zum Verweilen

ein. Draußen gibt es ein Deck mit Liegestühlen, das zum

Sonnen einlädt. Es ist richtig schön und modern eingerichtet

mit viel Licht. Es ist klar: Hier soll man sich wohlfühlen

können. Und doch kommen mir als erstes Menschen mit

Tränen in den Augen entgegen. Leben und Tod liegen hier

eng beieinander, denn das Sterben gehört hier zum Alltag

dazu.

Alle, die hier behandelt werden, stehen am Ende ihres

Lebens. Sie alle haben eine Erkrankung, die nicht

geheilt werden kann und tödlich endet. Meist sind es

Tumorpatient:innen, aber zum Beispiel auch von Lungenerkrankungen

Betroffene oder an HIV Erkrankte sind

dabei. Sie alle haben eins gemeinsam: Sie stecken gesundheitlich

in einer Krise. Sie können nicht mehr zu Hause

behandelt werden, sondern brauchen ein Krankenhaus

mit den weitgefächerten medizinischen Möglichkeiten, die

es hier gibt: ein medizinisches Netzwerk. Und die Behandlung

ist nicht (mehr) auf eine Heilung ausgerichtet. Jetzt

geht es um Linderung und Lebensqualität am Lebensende.

Hospiz oder Palliativstation – wo ist der Unterschied?

Bei der Palliativstation liegt der Schwerpunkt auf der medizinischen

Versorgung. Beim Hospiz steht die Begleitung

des Sterbens im Vordergrund. Beide Einrichtungen legen

großen Wert auf die Bedürfnisse der Betroffenen und auf

einen würdevollen Abschied.

Die Symptome, die hier gelindert werden, sind vielfältig:

Zuerst geht es um Schmerzen, aber auch um Übelkeit,

Luftnot und Ängste. Ich habe gelernt: Es kommt fast nicht

vor, dass Symptome nicht oder nur wenig gelindert werden

können. Das finde ich durchaus beruhigend. Etwa die

Hälfte der Patient:innen können zur ambulanten Behandlung

wieder entlassen werden. Eine große Rolle spielen

dann die ambulanten Hospizdienste und die spezialisierte

ambulante Palliativversorgung (SAPV). Hier ist man gut

vernetzt und arbeitet zusammen.

Manche Patient:innen kommen wieder – bei der nächsten

Krise. Und freuen sich dann, dass man hier noch weiß,

welches Kissen sie am liebsten haben, ob sie lieber baden

oder duschen und welche Musik sie beruhigend finden.

Ehrlichkeit ist ein entscheidender Punkt. Nicht nur, dass

die Betroffenen über ihre Erkrankung und den Verlauf

informiert werden – sondern auch bei allen Fragen drum

herum. Was passiert, wenn man stirbt? Wohin komme ich,

wenn ich tot bin? Komme ich überhaupt irgendwo hin?

Habe ich mein Leben gelebt?

Wenn es um Leben und Tod geht, steht man in gewisser

Weise nackt da – man kann sich nicht mehr verstecken.

Kann nichts mehr auf später oder irgendwann verschieben.

Die Gespräche gehen tief und sind manchmal schmerzhaft.

Es kommt auch schon mal vor, dass Türen knallen. Denn

auch die Angehörigen werden ehrlich mit einbezogen.

Aber das Gewitter ist in der Regel reinigend und man geht

gelöster und erleichterter daraus hervor. Wenn es um

Leben und Tod geht, tut es gut, Dinge laut auszusprechen.

Sich nicht gut verstecken können – das betrifft auch die

hier Arbeitenden. Ich kann mir gut vorstellen, dass es

einen verändert, jeden Tag mit dem Sterben in Kontakt

zu sein. Ich frage nach und – ja, das tut es. Man lernt zu

unterscheiden zwischen mitfühlen und mitleiden. Man

muss die Kranken auf der Station lassen und auf „eigenes

Leben“ wieder umschalten können. Und man gewinnt

neue Perspektiven – zum Beispiel darüber, was wirklich

wichtig ist. Manchmal bekommt man es auch direkt zu hören:

Warte nicht, lebe dein Leben jetzt. Auch Toleranz spielt

eine große Rolle. Es gibt bei einem würdevollen Sterben

nicht richtig und falsch. Aber es gibt: Passt für mich oder

passt nicht. Es gibt: So ist mein ganz persönlicher Weg.

Auf der Palliativstation steht man dem Tod nicht im

Weg, der Übergang wird bestmöglichst gestaltet – für

Patient:innen und Angehörige. Wer nicht mehr essen und

trinken möchte, wird darin unterstützt und begleitet. Aber

assistierter Suizid wird nicht geleistet. Darüber sind sich

alle, die dort arbeiten, einig.

Auf der anderen Seite wird hier jede Minute gelebt. Denn

darum geht es ja: Lebensqualität (zurück) zu gewinnen, Leben

wieder leben zu können – gerade weil das Ende schon

in Sicht ist. Dazu gehört schwarzer Humor: „Was ist der Unterschied

zwischen einem Tumor und einer Nachtschwester?

Beim Tumor besteht wenigstens die Möglichkeit, dass

er gutartig ist.“ Dazu gehört, dass viel gelacht wird und viel

gefeiert. Geburtstage, Trauungen, jede kostbare Minute.

Hier erlebt man Menschen ohne Fassade, ohne Maske –

eben pur. Weil es um Leben und Tod geht. Das hat mich

hier am meisten begeistert: Auf der Palliativstation tobt voll

das Leben. Nicht mehr mit so viel Tempo, aber dafür mit

viel mehr Tiefgang. Die Geschichten gehen unter die Haut.

Denn für Oberflächlichkeiten ist keine Zeit übrig.

Ganz besonders rührend finde ich den Einsatz von Klinikhund

Gordon. Er kommt jeden Mittwoch auf die Station.

Er besucht die, denen die Worte fehlen, die sich in sich

selbst verkriechen, oder einfach die, die Hunde mögen.

Ich höre von strahlenden Augen; Händen, die schon lange

nicht mehr bewegt werden können und jetzt trotzdem

Hundefell streicheln; Füßen, die man wie früher unter dem

schlafenden Hund wärmen kann; Menschen, die vor Glück

erschöpft einschlafen – mitten im Kraulen.

Gordon kann viele Tricks und löst die Stimmung - Es ist

einfacher über den Hund zu sprechen als übers Sterben.

Manchmal gelingt es dann, das Eis zu brechen.

Simone Schmidt-Becker

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