14/11/2024 0 Kommentare
HIER TOBT DAS LEBEN EIN BESUCH AUF DER PALLIATIVSTATION
HIER TOBT DAS LEBEN EIN BESUCH AUF DER PALLIATIVSTATION
# Themenschwerpunkt

HIER TOBT DAS LEBEN EIN BESUCH AUF DER PALLIATIVSTATION
„Das wird traurig“ habe ich gedacht, als ich mich auf den
Weg ins Euregioklinikum gemacht habe. „Bei der Palliativstation
geht’s ums Sterben“ - so dachte ich jedenfalls.
Falsch gedacht. Total falsch sogar. Ich habe ganz schön viel
gelernt an dem Tag. Was genau, davon schreibe ich in diesem
Artikel. Dankeschön sage ich an dieser Stelle vor allem
an Stationsleitung Silvia Lammering, die sich Zeit genommen
hat, meine Fragen zu beantworten und meinen Mann
und Klinikseelsorger Holger Schmidt, der mir Einblick in
seine Arbeit gewährt hat.
Als ich die Station betrete, fällt mir zuallererst die Tapete
auf. Große, farbenfrohe Blumen zieren die Wand. Es
sieht mehr nach Wohnzimmer aus als nach einer Klinik.
Auch die Sitzecken und die Küche laden zum Verweilen
ein. Draußen gibt es ein Deck mit Liegestühlen, das zum
Sonnen einlädt. Es ist richtig schön und modern eingerichtet
mit viel Licht. Es ist klar: Hier soll man sich wohlfühlen
können. Und doch kommen mir als erstes Menschen mit
Tränen in den Augen entgegen. Leben und Tod liegen hier
eng beieinander, denn das Sterben gehört hier zum Alltag
dazu.
Alle, die hier behandelt werden, stehen am Ende ihres
Lebens. Sie alle haben eine Erkrankung, die nicht
geheilt werden kann und tödlich endet. Meist sind es
Tumorpatient:innen, aber zum Beispiel auch von Lungenerkrankungen
Betroffene oder an HIV Erkrankte sind
dabei. Sie alle haben eins gemeinsam: Sie stecken gesundheitlich
in einer Krise. Sie können nicht mehr zu Hause
behandelt werden, sondern brauchen ein Krankenhaus
mit den weitgefächerten medizinischen Möglichkeiten, die
es hier gibt: ein medizinisches Netzwerk. Und die Behandlung
ist nicht (mehr) auf eine Heilung ausgerichtet. Jetzt
geht es um Linderung und Lebensqualität am Lebensende.
Hospiz oder Palliativstation – wo ist der Unterschied?
Bei der Palliativstation liegt der Schwerpunkt auf der medizinischen
Versorgung. Beim Hospiz steht die Begleitung
des Sterbens im Vordergrund. Beide Einrichtungen legen
großen Wert auf die Bedürfnisse der Betroffenen und auf
einen würdevollen Abschied.
Die Symptome, die hier gelindert werden, sind vielfältig:
Zuerst geht es um Schmerzen, aber auch um Übelkeit,
Luftnot und Ängste. Ich habe gelernt: Es kommt fast nicht
vor, dass Symptome nicht oder nur wenig gelindert werden
können. Das finde ich durchaus beruhigend. Etwa die
Hälfte der Patient:innen können zur ambulanten Behandlung
wieder entlassen werden. Eine große Rolle spielen
dann die ambulanten Hospizdienste und die spezialisierte
ambulante Palliativversorgung (SAPV). Hier ist man gut
vernetzt und arbeitet zusammen.
Manche Patient:innen kommen wieder – bei der nächsten
Krise. Und freuen sich dann, dass man hier noch weiß,
welches Kissen sie am liebsten haben, ob sie lieber baden
oder duschen und welche Musik sie beruhigend finden.
Ehrlichkeit ist ein entscheidender Punkt. Nicht nur, dass
die Betroffenen über ihre Erkrankung und den Verlauf
informiert werden – sondern auch bei allen Fragen drum
herum. Was passiert, wenn man stirbt? Wohin komme ich,
wenn ich tot bin? Komme ich überhaupt irgendwo hin?
Habe ich mein Leben gelebt?
Wenn es um Leben und Tod geht, steht man in gewisser
Weise nackt da – man kann sich nicht mehr verstecken.
Kann nichts mehr auf später oder irgendwann verschieben.
Die Gespräche gehen tief und sind manchmal schmerzhaft.
Es kommt auch schon mal vor, dass Türen knallen. Denn
auch die Angehörigen werden ehrlich mit einbezogen.
Aber das Gewitter ist in der Regel reinigend und man geht
gelöster und erleichterter daraus hervor. Wenn es um
Leben und Tod geht, tut es gut, Dinge laut auszusprechen.
Sich nicht gut verstecken können – das betrifft auch die
hier Arbeitenden. Ich kann mir gut vorstellen, dass es
einen verändert, jeden Tag mit dem Sterben in Kontakt
zu sein. Ich frage nach und – ja, das tut es. Man lernt zu
unterscheiden zwischen mitfühlen und mitleiden. Man
muss die Kranken auf der Station lassen und auf „eigenes
Leben“ wieder umschalten können. Und man gewinnt
neue Perspektiven – zum Beispiel darüber, was wirklich
wichtig ist. Manchmal bekommt man es auch direkt zu hören:
Warte nicht, lebe dein Leben jetzt. Auch Toleranz spielt
eine große Rolle. Es gibt bei einem würdevollen Sterben
nicht richtig und falsch. Aber es gibt: Passt für mich oder
passt nicht. Es gibt: So ist mein ganz persönlicher Weg.
Auf der Palliativstation steht man dem Tod nicht im
Weg, der Übergang wird bestmöglichst gestaltet – für
Patient:innen und Angehörige. Wer nicht mehr essen und
trinken möchte, wird darin unterstützt und begleitet. Aber
assistierter Suizid wird nicht geleistet. Darüber sind sich
alle, die dort arbeiten, einig.
Auf der anderen Seite wird hier jede Minute gelebt. Denn
darum geht es ja: Lebensqualität (zurück) zu gewinnen, Leben
wieder leben zu können – gerade weil das Ende schon
in Sicht ist. Dazu gehört schwarzer Humor: „Was ist der Unterschied
zwischen einem Tumor und einer Nachtschwester?
Beim Tumor besteht wenigstens die Möglichkeit, dass
er gutartig ist.“ Dazu gehört, dass viel gelacht wird und viel
gefeiert. Geburtstage, Trauungen, jede kostbare Minute.
Hier erlebt man Menschen ohne Fassade, ohne Maske –
eben pur. Weil es um Leben und Tod geht. Das hat mich
hier am meisten begeistert: Auf der Palliativstation tobt voll
das Leben. Nicht mehr mit so viel Tempo, aber dafür mit
viel mehr Tiefgang. Die Geschichten gehen unter die Haut.
Denn für Oberflächlichkeiten ist keine Zeit übrig.
Ganz besonders rührend finde ich den Einsatz von Klinikhund
Gordon. Er kommt jeden Mittwoch auf die Station.
Er besucht die, denen die Worte fehlen, die sich in sich
selbst verkriechen, oder einfach die, die Hunde mögen.
Ich höre von strahlenden Augen; Händen, die schon lange
nicht mehr bewegt werden können und jetzt trotzdem
Hundefell streicheln; Füßen, die man wie früher unter dem
schlafenden Hund wärmen kann; Menschen, die vor Glück
erschöpft einschlafen – mitten im Kraulen.
Gordon kann viele Tricks und löst die Stimmung - Es ist
einfacher über den Hund zu sprechen als übers Sterben.
Manchmal gelingt es dann, das Eis zu brechen.
Simone Schmidt-Becker
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