
23/07/2025 0 Kommentare
Barmherzigkeit oder Gerechtigkeit?
Barmherzigkeit oder Gerechtigkeit?
# Themenschwerpunkt

Barmherzigkeit oder Gerechtigkeit?
Wie wir über das Helfen denken, sagt viel über unser Weltbild aus. In der christlichen Tradition wird Wohltätigkeit meist als Akt der Barmherzigkeit verstanden – wir helfen aus Mitgefühl und gutem Willen. Anders im Judentum: Dort geht es nicht um mildtätige Gaben, sondern um Gerechtigkeit. Bedürftige Menschen haben einen Anspruch auf Unterstützung.
Schon die Sprache zeigt diesen Unterschied deutlich. Unser Wort „Almosen“ kommt vom griechischen Wort „eleemosyne“, was Barmherzigkeit bedeutet. Hier steht im Mittelpunkt, was die Gebenden empfinden – ihr Mitleid und ihre Großzügigkeit. Die Menschen, die Hilfe brauchen, müssen sich möglichst bedauernswert zeigen, um das Erbarmen der Spender*innen zu wecken.
Das hebräische Wort „zedaka“ bedeutet beides: Wohltätigkeit und Gerechtigkeit. Hier wird von den Hilfesuchenden her gedacht. Menschen in Not haben ein Recht auf Hilfe. Es geht nicht um eine „milde Gabe“, die gnädig von oben gewährt wird, sondern um die Wiederherstellung gerechter Verhältnisse.
Als ich in Krakau im jüdischen Viertel war, begegnete ich obdachlosen Menschen. Auf ihren Schildern stand keine mitleiderregende Beschreibung ihrer Lage, sondern oft nur ein Wort: „Zedaka!“ – Gerechtigkeit!
Diese Haltung ist tief im Alten Testament verwurzelt. Im 3. Buch Mose steht: „Wenn dein Mitmensch verarmt und seine Hand neben dir zu zittern beginnt, sollst du ihn stützen – sei er fremd oder mit Gastrecht, damit er mit dir leben kann.“ Und der Prophet Jesaja mahnt: „Brich dem Hungrigen dein Brot! Die im Elend ohne Obdach sind, führe in dein Haus!“
Diese und viele andere biblische Stellen begründen nicht nur eine moralische Pflicht zur Hilfe, sondern ein Rechtsverhältnis zwischen Helfenden und Hilfesuchenden. Schon im antiken Judentum entstand daraus ein bemerkenswert ausgeprägtes soziales Bewusstsein mit entsprechenden Einrichtungen. Es gab ein System kommunaler Armenpflege mit eigens dafür erhobenen Steuern, die je nach Leistungsfähigkeit gezahlt werden mussten. Dazu kamen freiwillige private Spendenvereine, die oft den Namen „Zedaka“ trugen und bis heute tragen. Allerdings war auch damals die Bereitschaft zu geben unterschiedlich stark ausgeprägt. Manche suchten nach Wegen, sich der Verpflichtung zu entziehen. Nicht umsonst tritt Gott immer wieder als Beschützer der Witwen und Waisen auf – zwei Gruppen, die eigentlich durch das System aufgefangen werden sollten, aber dennoch oft durchs Raster fielen.
Auch im Neuen Testament finden sich viele Belege für diese Haltung. Jesus und seine Nachfolger*innen verstanden sich als Teil einer Tradition, die Gerechtigkeit nicht als abstraktes Ideal, sondern als konkrete Praxis betrachtete. Das zeigt sich unter anderem in der Gütergemeinschaft und der Sorge für Bedürftige in den ersten Gemeinden. Aber auch hier war der Anspruch höher als die Wirklichkeit – es kam immer wieder zu Spannungen in diesen Fragen.
Der Unterschied zwischen Barmherzigkeits- und Gerechtigkeitsdenken hat weitreichende praktische Folgen. Im Barmherzigkeitsmodell bleiben die Machtverhältnisse unverändert: Die Besitzenden entscheiden großzügig, wem sie helfen, und die Bedürftigen müssen dankbar sein für das, was sie erhalten. Das Gerechtigkeitsmodell stellt diese Rangordnung in Frage und macht aus passiven Empfäng*innen aktive Rechtsinhaber*innen.
Dieser Perspektivwechsel verändert auch die Haltung der Helfenden grundlegend. Wer aus Gerechtigkeitsmotiven handelt, sieht sich nicht als wohltätige*n Spender*in, sondern als jemanden, der eine Verpflichtung erfüllt. Die Hilfe wird nicht als persönlicher Verdienst verbucht, sondern als Erfüllung göttlicher und menschlicher Ordnung verstanden.
Diese biblische Perspektive stellt kritische Fragen an unser heutiges Verständnis von Sozialarbeit und Entwicklungshilfe. Denn oft denken wir noch immer in Kategorien der Barmherzigkeit statt der Gerechtigkeit, wenn es um Hilfen für arbeitslose, geflüchtete, kranke oder arme Menschen geht. Auch wenn theoretisch Begriffe wie „Hilfe zur Selbsthilfe“ oder „Empowerment“ mittlerweile in vielen Bereichen üblich sind.
Die biblische Gerechtigkeitsperspektive fordert uns heraus, strukturell zu denken und grundlegende Veränderungen anzustreben, statt nur Symptome zu behandeln. Sie erinnert daran, dass wahre Gerechtigkeit nicht in großzügigen Gesten besteht, sondern in der Schaffung von Verhältnissen, in denen alle Menschen in Würde leben können.
Die heilsbringende Gerechtigkeit Gottes, die Jesus und seine Anhänger*innen bewegte, war radikal und systemverändernd. Sie dachte vom Recht der Schwachen her und zielte auf strukturelle Veränderungen. Das Reich Gottes ist noch nicht da, aber ich glaube daran, dass es schon begonnen hat und dass wir alle etwas dafür tun können, dass es jeden Tag ein bisschen mehr Wirklichkeit wird. Nicht, weil wir großzügig sind, sondern weil wir so miteinander leben, wie Gott uns gedacht hat.
DIE ACHT STUFEN DES MAIMONIDES
Der jüdische Religionsphilosoph Maimonides (gestorben 1204) entwickelte eine achtstufige Rangfolge des Gerechtigkeitsdienstes:
1. Mit Unfreundlichkeit geben
2. Nicht ausreichend, aber mit Freundlichkeit geben
3. Geben, nachdem man gebeten wird
4. Geben, bevor man gebeten wird
5. Die Gebenden kennen die Empfangenden nicht, aber diese kennen die Gebenden
6. Die Gebenden kennen die Empfangenden, diese aber nicht die Gebenden
7. Weder Gebende noch Empfangende wissen voneinander
8. So geben, dass die Empfangenden die Möglichkeit bekommen, sich selbständig zu ernähren
Diese höchste Form – die „Hilfe zur Selbsthilfe“ –zeigt ein Gerechtigkeitsverständnis, das nicht nur die akute Not lindern, sondern dauerhafte Veränderungen bewirken will.
Katharina Friebe
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