Reisen bildet - auch das Herz

Reisen bildet - auch das Herz

Reisen bildet - auch das Herz

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Reisen bildet - auch das Herz

„Es gibt Dinge, die kann einem keine Schule und kein Unterricht beibringen. Manches müssen wir vom Leben, von der Welt lernen“.  Diese Überzeugung war mein Motor, als ich meinen Schüleraustausch nach Brasilien plante. Herzensbildung, dieses Wort hatte ich dabei damals noch nicht im Kopf.

Für mich meint Herzensbildung alles, was das Herz, als Kern unseres Inneren, stärkt und formt. Alles, was einen Abdruck hinterlässt und zur eigenen Reflektion und Liebesfähigkeit beiträgt.

Mein Austauschjahr in Brasilien war so eine Zeit. In diesem Sinne folgt eine Galerie von kurz beschriebenen Erinnerungen, die mit Worten und Zwischenräumen mit hineinnehmen wollen in die Bewegung des Lernens durch Reisen. Vielleicht mögen Sie nach dem Lesen Ihre eigene Liste anfertigen und sich an Momente erinnern, die einen Abdruck in Ihrem Herzen hinterlassen haben.

Ich erinnere mich an den Blick aus dem Fenster beim Anflug auf Sao Paulo. Es war wie umgekehrtes Silvester. Ich, im tiefschwarzen Nachthimmel und unter mir ein Lichtermeer, bunt wie ein Feuerwerk. Noch nie hatte ich so viele Lichter auf einmal gesehen.

Ich erinnere mich, wie mein Gastpapa immer wieder unter vollem Körpereinsatz Sprachbarrieren überbrückte. Etwa, als er mit seinen Händen unter den Achseln durch die Küche stakste und weitere Bewegungen anschloss, um mir zu vermitteln, dass wir nun die Hühner füttern würden. Es funktionierte. Jedes Mal.

Ich erinnere mich an Delfine, die unmittelbar vor dem Strand auftauchten und nur einige Meter von uns entfernt schwammen und spielten. Im selben Wasser wie sie, fühlte ich mich verbunden mit etwas Größerem.

Ich erinnere mich daran, dass ich neidisch auf die Kinder um mich herum war, weil sie bereits viel besser Portugiesisch sprachen als ich. Als ich darüber nachdachte, stellte sich Staunen ein und ich realisierte wie wenig unsere Fähigkeiten mit unserem Alter zu tun haben.

Ich erinnere mich daran, wie ich das erste Mal ins Gras fasste und überrascht war, dass sich der Rasen, egal ob auf „unserem“ Grundstück oder im Park, viel mehr wie Schnittlauch anfühlte.

Ich erinnere mich, wie eine Gruppe von 40 Jugendlichen aus der ganzen Welt, die allein dadurch verbunden waren, dass sie ihr Austauschjahr in Curitiba machten, über die Monate zu einer engen Gemeinschaft zusammenwuchsen, sich Tänze ausdachten und all ihre Tränen und ihr Lachen teilten.

Ich erinnere mich, wie meine Füße den Boden des Regenwaldes am Amazonas berührten und an den Besuch eines indigenen Dorfes. Ein Mädchen des Stammes betrachtete mich einige Zeit, kam zu mir und sagte, dass mein neuer Name „borboleta“ [dt. Schmetterling] sei. Ihre Schwester erklärte mir, dass es einen Brauch bei ihnen gibt nach dem sie den Namen eines Tieres empfingen. Ein warmes Gefühl breitete sich in meinem Inneren aus und ich dachte mir, dass sich so eine Krönung anfühlen müsse.

Ich erinnere mich, wie ich das erste Mal seit Jahren wieder auf einem Pferderücken saß und so sehr grinste, dass am Abend meine Wangen fast mehr weh taten als meine Beine.

Ich erinnere mich, wie mein Gastpapa beim Frühstück verschmitzt lächelnd den Zeitpunkt abwartete, an dem ich aufgekaut hatte, um mich zu bitten das Wort „arara“ [dt. Ara] auszusprechen. Er amüsierte sich jedes Mal köstlich darüber, dass mein gerolltes „r“ wie ein „h“ klang. „a-ha-ha“, wiederholte er laut lachend und obwohl ich nicht wollte, musste ich mitlachen.

Ich erinnere mich, wie ein brasilianischer Freund von mir im Chat schrieb, dass ein Kumpel von ihm auf einer Party erschossen wurde. Plötzlich verstand ich, warum meine Gasteltern sehr wählerisch mit ihrem Einverständnis zum Ausgehen waren.

Ich erinnere mich, wie ich das erste Mal eine andere Form der Spiritualität erlebte. Der ganze Kirchraum, eine Halle, die mich aufgrund der weißen Plastikstühle aber irgendwie an eine große Eisdiele erinnerte, schien ein lebendiger, atmender Organismus zu sein. Überall standen, tanzten oder sangen Leute. Es war so fremd und doch fühlte ich mich zu Hause.

Ich erinnere mich an das Wiederkommen nach Deutschland. An die Rückfahrt vom Flughafen zum Haus meiner Eltern und wie ich mehrmals wiederholte: „Wow, es ist alles so grün!“.

Ich erinnere mich auch an den ersten Lauf der Jahreszeiten nach meinem Austauschjahr und wie ich sie mit wacheren Augen und noch dankbareren Herzen beobachtete und in mich aufsog. Ihr Wechsel und Tanz schien wie ein Wunder für mich.

In dieser Zeit meines Austauschs habe ich viel mehr gelernt, als ich vorher hätte formulieren oder erwarten können. Die eigentliche Kraft lag in Begegnungen, mit Menschen, Natur und Gott. Die Sehnsucht nach solchem Lernen hat mich noch immer nicht losgelassen. Die Sehnsucht nach Lernen durch Begegnungen. Das ist einer der Gründe, warum ich auch noch ein Studienjahr in Italien verbrachte und warum reisen mir so am Herzen liegt. Es geht mir dabei um mehr, als faszinierende Orte zu sehen und schöne Fotos zu machen. Im Reisen liegen Geheimnisse verborgen so wie im Leben selbst. Wer sich auf den Weg macht, nähert sich an und vielleicht findet sich das, was gesucht wurde. Oder noch viel mehr.

Larissa Ehrbeck

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